Tag des Kanji des Jahres – das japanische Kotoshi no kanji

Seit 1995 steht der 12. Dezember in Japan ganz im Zeichen der Schriftzeichen. Denn an diesem Datum veröffentlicht die japanische Kanji Proficiency Society (jap. (財団法人日本漢字能力検定協会 – Zaidan hōjin Nihon Kanji Nōryoku kentei kyōkai) im Rahmen einer festlichen Zeremonie im buddhistischen Kiyomizu-dera Tempel (jap. 清水寺) die Ergebnisse der landesweiten Abstimmung zum Kanji des Jahres (jap. 今年の漢字 – Kotoshi no kanji). Umgangssprachlich ist dieses Ereignis auch als japanischer Tag des Kanji bekannt, weshalb es auch unter diesem Namen in Sammlung der kuriosen Feiertage aus aller Welt aufgenommen wird.

Die japanische Flagge mit dem Text '今年の漢字 – Kotoshi no Kanji' in Schwarz darunter
Kotoshi no kanji – Tag des Kanji des Jahres in Japan. Kuriose-Feiertage – 12. Dezember © 2017 Sven Giese.

Wer hat den japanischen Kanji-Tag ins Leben gerufen?

Die Initiative für den japanischen Kanji-Tag am 12. Dezember geht auf die Kanji Proficiency Society und das Jahr 1995 zurück. Ähnlich der Wahl zum Wort bzw. Unwort des Jahres in Deutschland stellt man hier jedes Jahr mehrere japanische Schriftzeichen in einer landesweiten Abstimmung zu Wahl, die einen Bezug zu den jeweiligen Ereignissen des Jahres haben.

Das Ergebnis der Wahl präsentiert man dann in einer festlichen Zeremonie im buddhistischen Tempel Otowasan Kiyomizudera (jap. 清水寺) in Ost-Kyōto, der landesweit als eine der berühmtesten Sehenswürdigkeiten der Stadt bekannt ist (siehe für Fotos dieser Zeremonie auch den unten verlinkten Artikel der japanischen Ausgabe der Huffingtonpost).

Nur warum man sich seitens der Initiatoren hier ausgerechnet den heutigen 12. Dezember als Datum ausgesucht hat, konnte ich im Zuge der Recherchen für den vorliegenden Beitrag nicht herausfinden. Zumindest reichen hierfür meine Japanisch-Kenntnisse nicht (siehe dazu auch die Liste weiterführender Links unten). Mit dem ebenfalls am 12. Dezember begangenen Tag des Baumkuchens in Deutschland sowie dem US-amerikanischen Tag des Weihnachtssterns (engl. Poinsettia Day) oder dem Lebkuchenhaus-Tag (engl. Gingerbread House Day) scheint es jedenfalls nichts zu tun zu haben. ;) Dies gilt auch für den seit 2012 international begangenen Soundcheck-Tag (engl. International Sound Check Day).

Wann ist Tag des Kanji des Jahres?

Seit 1995 feiert Japan seinen nationalen Tag des Kanji des Jahres (jap. 今年の漢字 – Kotoshi no kanji) traditionell immer am 12. Dezember.

JahrDatumWochentag
202412. DezemberDonnerstag
202512. DezemberFreitag
202612. DezemberSamstag
202712. DezemberSonntag
202812. DezemberDienstag
202912. DezemberMittwoch
203012. DezemberDonnerstag
203112. DezemberFreitag
203212. DezemberSonntag
203312. DezemberMontag
203412. DezemberDienstag

Was sind überhaupt Kanjis?

Insgesamt existieren heute über 50.000 verschiedene japanische Schriftzeichen, von denen aber – ähnlich wie im Chinesischen – lediglich 2000 bis 3000 im allgemeinen Sprachgebrauch auftauchen und genutzt werden. Mit einem solchen Wortschatz dürfte man also in Japan schon sehr, sehr weit kommen. ;)

Unter dem Begriff Kanji (jap. 漢字 kanji) versteht man die japanische Bezeichnung für chinesische Schriftzeichen, die auch in der Schriftsprache Japans vorkommen.

Dabei leitet sich der Name von der chinesischen Han-Dynastie (206 v. Chr. bis 220 n. Chr.) ab, unter der das erste Lexikon der chinesischen Schriftsprache (das Shuowen Jiezi) entstand. Siehe für ein vergleichbares Vorgehen dazu auch exemplarisch den Beitrag über den südkoreanischen Hangeul-Tag, den Tag des koreanischen Alphabets (korean. 한글날 – Hangeullal) am 9. Oktober. Dies war u. a. auch das Ergebnis der Bestrebungen der vorherigen Qin-Dynastie (221–207 v. Chr.), unter deren Ägide die chinesische Schrift vereinheitlicht wurde. Nicht umsonst sprechen die Chinesen mit Blick auf ihre Schriftzeichen auch heute noch von汉字 (hànzì – dt. Zeichen der Han).

Im Laufe der Zeit haben sich hier aber natürlich einige Unterschiede zwischen China und Japan ergeben. Folgende Aspekte lassen sich bezüglich der japanischen Kanji herausstellen:

  • Beginnen wir mit dem offensichtlichsten Unterschied. Trotz gemeinsamer Wurzeln sind Chinesisch und Japanisch zwei unterschiedliche Sprachen, die sich auch in der Aussprache vieler Begriffe bemerkbar machen.
  • Im Gegensatz zu häufig kolportierten Aussage wurden nicht alle chinesischen Schriftzeichen ins Japanische übernommen. Zwar bilden diese immer noch die Basis, faktisch hat man in Japan aber auch zahlreiche eigenständige Zeichen, die sogenannten Kokuji (jap. 国字 – dt. Landeszeichen) entwickelt.
  • Während die Chinesen wirklich alle Wörter in ihre Schriftzeichen schreiben, reduziert man in Japan die Verwendung von Kanjis auf die bedeutungstragenden Elemente (z. B. Nomen und der Stamm der Verben und Adjektive). Diese werden dann um die Morenschriftzeichen Hiragana und Katakana ergänzt und erweitert.
  • Ähnlich wie in China wurden auch in Japan die relativ komplexen traditionellen Langzeichen im Laufe der Zeit deutlich vereinfacht. Die letzte Änderung in Japan erfolgte 1946, wobei in diesem Kontext anzumerken ist, dass hier keine einheitliche Vorgehensweise zwischen den Sprachen existiert. So liegen bis heute noch viele Schriftzeichen in drei Varianten vor: als Langzeichen (Taiwan, Hongkong, Korea), Kurzzeichen (Volksrepublik China, Singapur) und als japanische Variante (Shinjitai).

Die Liste aller Kanjis des Jahres seit 1995

Im Gegensatz zur Wahl des Datums sind die jeweiligen Kanji des Jahres natürlich hervorragend dokumentiert, wobei mit Blick auf die Gesamtheit auffällt, dass man hier inhaltlich ein sehr breites Spektrum abdeckt.

  • 1995: 震 shin – Erdbeben: Aufgrund des schweren Erdbebens von Kōbe vom 17. Januar 1995 wurde dieses Schriftzeichen gewählt.
  • 1996: 食 shoku – Essen, Lebensmittel: In diesem Jahr waren zahlreiche Fälle von Lebensmittelvergiftungen durch das Bakterium E. coli O157 in Schulessen aufgetaucht.
  • 1997: 倒 tō – Kollaps, Zusammenbruch, aber auch: besiegen. Hier als doppelter Bezug auf die asiatische Banken- und Finanzkrise des Jahres 1997 und die unerwartete Siegesserie der japanischen Fußballnationalmannschaft im Zuge der Qualifikation zur WM 1998 in Frankreich.
  • 1998: 毒 doku – Gift. Auch hier wieder ein Bezug zum Essen. Denn in diesem Jahr mussten 67 Menschen mit Lebensmittelvergiftungen ins Krankenhaus eingeliefert werden, von denen vier letztlich auch verstarben. Ursache war hier eine mutwillige Vergiftung von Curry durch die Japanerin Masumi Hayashi.
  • 1999: 末 sue – Ende. Das letzte Jahr des Jahrhunderts, in dem der Nuklearunfall von Tōkaimura stattfand.
  • 2000: 金 kin – Gold. Hier gibt es aus Sicht der Abstimmenden gleich mehrere Bezüge: Die japanischen Athleten Ryoko Tamura (Judo) und Naoko Takahashi (Marathon) gewinnen Gold bei den Olympischen Sommerspielen in Sydney. Kim Dae Jung und Kim Jong-il halten das erste Nord-Süd-koreanische Präsidententreffen ab, die hundertjährigen Zwillingsschwestern Kin-san und Gin-san (phonetisch ähnlich mit den Wörtern Gold und Silber) sterben und die erste japanische ¥2.000 Banknote wird gedruckt.
  • 2001: 戦 sen – Kampf. Auch Japan nimmt Bezug auf die New Yorker Anschläge vom 11. September, bezieht sich zugleich aber auch auf den militärischen Einsatz der USA in Afghanistan und der globalen Rezession.
  • 2002: 帰 ki – Rückkehr: Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen Japan und Nordkorea, in deren Rahmen auch fünf japanische Staatsbürger freigelassen werden und in die Heimat zurückkehren können.
  • 2003: 虎 tora – Tiger. Das Baseball-Team der Hanshin Tigers gewinnt erstmals seit 18 Jahren wieder die Meisterschaft der japanischen Central League. Eine weitere Referenz bezieht sich bei diesem Kanji aber auch auf den Eintritt der japanischen Armee in den Irak-Krieg. Da diese seit dem Zweiten Weltkrieg bis dato nur zur Verteidigung des Landes eingesetzt werden durfte/sollte, sprachen viele Japaner auch von einem Tiger auf den Schwanz zu treten.
  • 2004: 災 sai – Desaster, Katastrophe: Kein gutes Jahr für das Land der aufgehenden Sonne. Denn neben dem Chūetsu-Erdbeben vom 23. Oktober, hatte man auch mit den Folgen des Taifuns Tokage am 12. Oktober, einem schweren Störfall im Kernkraftwerk Mihama am 9. August und einer schweren finanziellen Krise des Autokonzerns Mitsubishi Motors zu kämpfen.
  • 2005: 愛 ai – Liebe. Prinzessin Nori heiratet Yoshiki Kuroda und Japan veranstaltet die Expo 2005 in Aichi.
  • 2006: 命 inochi – Leben: Die kaiserliche Familie bekommt Nachwuchs. Denn am 6. September erblickt Prinz Hisahito von Akishino das Licht der Welt.
  • 2007: 偽 nise – Täuschung. Ein weiterer Lebensmittelskandal erschüttert das Land. Dieses Mal sind es falsch ausgezeichnete und abgelaufene Waren in den Supermärkten. Ferner kommen eine ganze Reihe von Ungereimtheiten bei der Vergabe politischer Spenden und Pensionszahlungen ans Tageslicht.
  • 2008: 変 hen – Wechsel, Veränderung: Japan wählt in diesem Jahr einen neuen Premierminister, zugleich aber auch eine Referenz an den Wahlslogan des neuen US-Präsidenten Barack Obama, dessen Kampagne unter dem Leitmotiv Change lief.
  • 2009: 新 shin – neu. Nach über 50 Jahren in der Opposition gewinnt die Demokratische Partei erstmals die Wahlen und kommt an die Regierung.
  • 2010: 暑 sho – heiß, Hitze: Neben dem Jahrhundertsommer mit Rekordtemperaturen erinnert dieses Kanji des Jahres 2010 aber auch an das Grubenunglück in einer chilenischen Mine, bei dem Bergleute in 700 Metern mit wenig Sauerstoff und hohen Temperaturen eingeschlossen wurden.
  • 2011: 絆 kizuna – Verbundenheit. Anlässlich des Tōhoku-Erdbebens vom 11. März 2011 soll mit diesem Kanji die Verbundenheit der Japaner als Nation unterstrichen werden. Weiterhin gab es mit dem Titelgewinn der Fußball-Weltmeisterschaft der Frauen in Deutschland einen Grund zum Feiern. Auch Teamgeist zählt man hier zur Kategorie der Verbundenheit.
  • 2012: 金 kin – Gold: Nach 2000 bereits zum zweiten Mal zum Kanji des Jahres gewählt und damit das einzige japanische Schriftzeichen mit einer Mehrfachnennung. Dies aber aus gutem Grund. Denn neben diversen Goldmedaillen bei den Olympischen Sommerspielen in London feierte Japan auch die Verleihung des Medizin-Nobelpreises an den Arzt und Stammzellenforscher Shin’ya Yamanaka.
  • 2013: 輪 rin – Rad, Kreis, Ring. Japan erhält den Zuschlag für die Ausrichtung der Olympischen Sommerspiele im Jahre 2020. Hier auch als Referenz an den japanischen Begriff für Olympiade: 五輪 (itsutsu rin), der wörtlich übersetzt fünf Ringe bezeichnet.
  • 2014: 税 zei – Steuer: Erhöhung der Mehrwertsteuer von 5 % auf 8 %.
  • 2015: 安 an – Sicherheit. Anlässlich der Explosion auf dem Gelände des Yasukuni-Schreins, dem Terroranschlag von Paris und dem Erlass des State Secrecy Law stellte Japan dieses Jahr unter das Schriftzeichen für Sicherheit.
  • 2016: 金 kin – Gold: Und zum dritten Mal Gold. Auch in diesem Jahr wieder mit Bezug auf die gewonnenen Goldmedaillen bei den Olympischen Sommerspielen in Rio de Janeiro. Aber auch als Referenz an den Wechsel zu Negativzinsen sowie Donald Trumps Wahl zum US-Präsidenten (blonde Haare heißen im Japanischen金髪 (kinpatsu) und dem japanischen Comedian Piko Taro, der goldene Bühnenoutfits mit Tiermustern trägt).
  • 2017: 北 kita – Norden. Neben den nordkoreanischen Raketen- und Atomtests des Jahres 2017 bezieht sich das diesjährige Kanji aber auch auf die schweren Regenfälle und Unwetter im nördlichen Kyushu.
  • 2018: 災 sai – Desaster, Katastrophe: Mit dem schweren Erdbeben von Osaka und den heftigen Überflutungen im Südwesten des Landes steht auch 2018 nach 2004 zum zweiten Mal im Zeichen der Naturkatastrophen.
  • 2019: 令 rei ryou – gute oder gerechte Ordnung. Der Name der japanischen Ära wurde in Reiwa (jap. 令和 – reiwa – dt. wörtlich gute Harmonie) geändert. Als Sicherheitsmaßnahme gegen die von den durch den Taifun Faxai und den Taifun Hagibis in der Kantō-Region verursachten Stürme und Regenfälle gab die Regierung Evakuierungsanordnungen heraus (jap. 発令 – hatsurei – dt. Anweisung).
  • 2020: 密 mitsu hiso-ka – Geheimnis und Nähe. Eine Bezugnahme auf die sogebannten san mitsu (3密, die drei Cs), eine Empfehlung der Regierung, im Rahmen der COVID-19-Pandemie geschlossene Räume, Menschenansammlungen und enge Kontakte zu vermeiden. Es ist auch eine Anspielung darauf, dass die Menschen durch die „Stay-at-home“-Richtlinie näher zusammengerückt sind. Mitsu spielt außerdem auf Geheimnisse/Skandale an, die im Jahr 2020 in der Politik und in der Unterhaltungsbranche ans Licht gekommen sind.
  • 2021: 金 kin – Gold/Geld: Bezugnahme auf die Goldmedaillen der Olympischen Spiele und Paralympics 2020 in Tokio, die im Juli dieses Jahres nach einer Verschiebung unter besonderen Einschränkungen aufgrund der COVID-19-Pandemie stattfanden. Gold bezieht sich aber auch auf weitere große sportliche Leistungen japanischer Athleten im Verlauf des Jahres. Hier besonders: Shohei Ohtani wurde mit dem Preis für den wertvollsten Spieler der Major League Baseball ausgezeichnet und Sōta Fujii wurde der jüngste Shogi-Vier-Kronen-Träger der Geschichte. Die Bedeutung Geld wurde in Anlehnung an die neuen Designs für japanische Banknoten und der Einführung einer neuen 500-Yen-Münze gewählt.
  • 2022: 戦 sen ikusa – Krieg/Gefecht: Bezugnahme auf den russischen Einmarsch in der Ukraine und die Ermordung des ehemaligen japanischen Premierministers Shinzo Abe am 8. Juli 2022.
  • 2023: 税 zei mitsugi – Steuern: Verweis auf Steuererhöhungen und -senkungen, Einführung eines neuen Rechnungssystems und kommunale Steuerzahlungen im Austausch gegen Geschenke.
  • 2024: 金 kin kane – Gold/Geld: Eine Verneigung vor den Leistungen des japanischen Olympia-Teams bei den Olympischen Spielen und den Paralympics in Paris. Ferner bezieht sich Gold aber auch auf die Aufnahme der Goldminen der Insel Sado in die Liste des UNESCO-Welterbes. Es ist hier aber nicht alles Gold, was glänzt. Denn die doppelte Bedeutung ist auch eine Anspielung auf die regierende Liberaldemokratische Partei, die 2024 von einem Schwarzgeldskandal erschüttert wurde.

In diesem Sinne, Euch allen ein tolles Kotoshi no kanji.

Egal, ob in Japan, in Deutschland oder sonst wo auf der Welt.

Weitere Informationen und Quellen zum Kotoshi no kanji in Japan